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Medium Rezension
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Sanyal, Mithu
Mithu Sanyal – Antichristie
Unkonventionell, unangepasst, innovativ - Schreiben mit Herz, Hirn und Humor
Mithu Sanyal, geboren 1971 in Düsseldorf, Mutter Deutsche, Vater Inder Sie ist Kulturwissenschaftlerin, Schriftstellerin, Kritikerin. 2009 erschien ihr Sachbuch "Vulva. Das unsichtbare Geschlecht"; 2016 "Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens"; 2021 ihr erster Roman "identitti", der auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises stand und mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet wurde; 2024 "Antichristie", stand ebenfalls auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises.
Fast and furious
Durga, 50 Jahre, Drehbuchautorin, Tochter einer Deutschen und eines Inders, ist hin- und hergerissen zwischen den Kulturen, der Liebe ihres Vaters zu England und ihrer eigenen Sicht der britischen Kolonialherrschaft u.a. in Indien. Durga ist in London unterwegs, wo sie an einer möglichst kritischen Verfilmung von Agatha Christies Hercule-Poirot-Storys teilnehmen will. Das Vorhaben hat sich herumgesprochen und so demonstrieren jeden Tag Menschen vor den Studios, die die Umsetzung verhindern wollen.
Es ist das Jahr 2022, Queen Elizabeth gerade verstorben, was die Situation nicht einfacher macht. Privat ist Durga wegen des Todes ihrer Mutter – die die eigentliche Inderin in der Familie war mit ihrer unverbrüchlichen Indienliebe – durcheinander. Als wäre das nicht anstrengend genug, findet sich Durga bei einem Spaziergang durch London unvermittelt in einer anderen Zeit wieder: Sie ist zur Zeitreisenden geworden und strandet hier im Jahr 1906. Nicht nur das: Sie hat das Geschlecht gewechselt und ist nun ein Mann. Eine interessante, aber auch irritierende Erfahrung.
Wer bin ich? Wo bin ich? Wo ist der Ausgang?
Durga irrt durch die ihr nun fremde Stadt, gerät wegen ihrer eigenartigen Kleidung in prekäre Situationen, findet Hilfe und landet schließlich im India-House, einem Ort, an dem indische junge Männer leben, allesamt Studenten. Sie haben die Chance für Bildung und eine bessere Zukunft ergriffen, argwöhnisch beobachtet vom britischen Geheimdienst bzw. der Staatsmacht, die in ihnen potentielle Attentäter und Revolutionäre vermutet. Nicht zu Unrecht, wie sich herausstellt.
Durga nennt sich nun Sanjeev Chattopadhya, wird freundlich aufgenommen und erlebt hautnah mit, wie die jungen Männer hier leben, diskutieren, streiten, studieren, sie, die später teilweise berühmt werden wie Mahatma Ghandi oder Folter und lange Kerkerhaft in britischer Gefangenschaft erfahren. Dann geschieht tatsächlich ein Mord, ein Attentat mit gefährlichen Folgen für die Gemeinschaft im India-House. Was geschieht mit den Bewohnern, wird Sanjeev wieder zu Durga und wie geht es mit der Agatha-Christie-Verfilmung weiter?
Beim zweiten Lesen wird alles gut. Man soll überhaupt nur Bücher lesen, die ein zweites Mal lohnen
Beim ersten Lesen tat ich mich recht schwer: Einerseits fand ich das Ganze durchaus witzig und erfrischend anders. Doch die vielen Ortswechsel (von der Zeitreise nicht zu reden), die ungewohnte Herangehensweise, die vielen – filmisch angelegten – Passagen, schnelle Wechsel (wie Filmschnitte) machten die Lektüre anstrengend. Hinzu kam eine immer wieder ironische Erzählweise, so dass ich mich dauernd auf schwankendem literarischen Boden fühlte, unsicher, was ich vom Ganzen halte sollte. War sicher beabsichtigt. Andererseits interessierte mich die Aufarbeitung der britischen Kolonialherrschaft (nicht nur) in Indien zunehmend. Auch die Perspektive Durgas, aus der Zukunft in die Vergangenheit zu reisen, vieles über die indischen Protagonisten und ihr zukünftiges Schicksal zu wissen – was diese natürlich nicht wissen können - fand ich reizvoll. Ebenso wie Durga/Sanjeev sie als junge Männer erlebt, wie sie sich entwickeln in der Zeit.

Beim zweiten Lesen fiel mir alles naturgemäß leichter. Nun hatte ich viel mehr Spaß an dem unkonventionellen, teils aberwitzigen Vorgehen der Autorin, ihrer Ironie, dem Nebeneinander der verschiedenen Positionen, dem Spielen mit Urteilen und Vorurteilen, Genderthematik, Mann-Frau-Beziehungen, kultureller Aneignung bzw. Überidentifikation, die witzig-sarkastisch kommentiert werden.

Insgesamt ein lesenswertes Buch. Es verbindet aktuelle Themen mit denen aus der Vergangenheit, die dann doch gar nicht so weit entfernt liegt, wie man meinen möchte.
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