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Medium Rezension
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Hahn, Ulla
Ulla Hahn - Spiel der Zeit
Ulla Hahn - Schriftstellering, Lyrikerin
In vier Bänden erzählt Ulla Hahn (geb. 30.4.1945 in Brachthausen, Sauerland, aufgewachsen in Monheim, Rheinland) die Geschichte ihrer Protagonistin Hilla Palm, ihrer Familie, ihr Leben und Treiben - und mit ihr die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1945 bis weit in die 1970er Jahre.
Der erste Band „Das verborgene Wort“ erschien 2001, der zweite „Aufbruch“ 2009, der dritte „Spiel der Zeit“ 2014 und der Abschlussband „Wir werden erwartet“ 2017, alle Deutsche Verlags-Anstalt München, die Taschenbücher teils bei DTV oder dem Penguin-Verlag.
Spiel der Zeit
Hilla Palm, „dat kenk von nem Prolete“ aus Dondorf ist in Köln angekommen, hat ein kleines Zimmer im katholischen Hildegard-Kolleg bekommen. Zum ersten Mal ist sie allein, hat ein Refugium für sich sowie einige Annehmlichkeiten: Fließend Kalt- und Warmwasser auf dem Zimmer, Toilette und Bad auf dem Flur. Das genießt sie, erkundet die Stadt, versucht, mit der Ortsveränderung klarzukommen. Unversehens stellt sich so etwas wie Heimweh ein – Zuhause ist sie nun eher „auf Besuch“. Hilla lernt neue Menschen kennen, zuvörderst junge Frauen wie sie. Ihr Erlebnis – die Nacht auf der Lichtung – bleibt präsent, rückt jedoch weiter fort.
Die jungen Frauen sind sehr verschieden in ihrer Herkunft und ihrem Charakter, allesamt katholisch. Sie führen im Kolleg ein recht reglementiertes Leben, genießen aber viel mehr Freiheit als daheim. Schwierigkeiten kennen auch sie, wie Hilla schmerzlich am Beispiel ihrer neuen Freundin Gretel erfahren muss. Die Studentenproteste rücken näher und Hilla kann sich ihnen nicht ganz entziehen. Auf einer Party lernt sie Hugo kennen, einen Studenten aus reichem Kölner Elternhaus. Die beiden verlieben sich und sind fortan unzertrennlich. Daran können auch seine Eltern nichts ändern, denen Hilla nicht „fein“ und deren Eltern nicht betucht sind.
An der Universität beginnen die Studenten, sich mit der NS-Zeit auseinanderzusetzen. So wichtig dies auch für Hilla und Hugo ist, sehen sie sehr kritisch, dass eine Reihe von Studenten und Organisationen übers Ziel hinausschießen mit ihrem Vorgehen, das zeitweise in eine Hexenjagd ausartet. Deshalb halten die beiden sich etwas abseits.
Hilla, Hugo und das Leben
Hugo hat eine leichte Verkrümmung der Schulter, was seine Eltern ihm übelnehmen. Er ist damit offensichtlich nicht comme il faut. Hilla erkennt in ihm „das Pückelchen“, den Stein mit einem kleinen Buckel, den Bertram, sie und der Großvater einmal am Rhein gefunden haben. Der Großvater erzählt eine Geschichte dazu und für Hilla erscheint diese Verformung bei Hugo wie ein Zeichen, das sie füreinander bestimmt sind. Sie nimmt Hugo mit zu ihren Eltern und diese verlieben sich nachgerade in den freundlichen, offenen jungen Mann. Hier erkennt Hilla, dass ihre Eltern viel mehr liebenswerte Seiten haben, als sie je für möglich gehalten hätte. Hugo vertraut sie sich schließlich an und er steht ihr bei, hilft ihr das Trauma zu überwinden. Mit ihm an ihrer Seite beginnt sie zu leben. Hugo hat einiges Geld zur Verfügung und Hilla erlebt zum ersten Mal, wie es ist, keine Geldsorgen zu haben und sich kleine Dinge gönnen zu können.
Hilla lernt einen Onkel von Hugo kennen, der in Meran lebt und so etwas wie ein Enfant terrible der Familie Breidenbach ist ebenso wie eine Tante, die in den Vereinigten Staaten lebt und ein ziemlich bunter Hippie-Vogel ist – gleichzeitig anerkannte Professorin an einer Universität. Die beiden sind die sympathischen Mitglieder der Familie Breidenbach – die anderen sehr gut angesehen, „wohltätige“ Mitglieder der guten bis besseren Gesellschaft, aber absolut gefühlsarm.
Die Großmutter stirbt, der Vater muss ins Krankenhaus und überlebt. Das sind entscheidende Erfahrungen für Hilla, die zum ersten Mal mit der Endlichkeit des Lebens konfrontiert wird. Je älter sie wird, umso mehr erkennt sie, dass die Eltern Kinder ihrer Zeit sind und vieles, was sie so schwierig macht, mit ihrer Biographie, der Zeit und der Armut zusammenhängt. Gerade durch Hugo und wie er mit ihren Eltern umgeht wird ihr das bewusst. Vater und Mutter erzählen, unabhängig voneinander, aus ihrem Leben, was Hilla ermöglicht, sie besser zu verstehen und sich mit ihnen auszusöhnen.
Mit Hugo beginnt das Leben für sie, sie ist glücklich. So könnte es bleiben. Am Schluss des 3. Bandes verloben sich sie sich, zur Freude von Hillas Familie, zum Ärger der Breidenbachs.
Fiktion, Erlebtes, Beobachtung
Im Fokus dieses Bandes stehen die 1960er Jahre mit ihren Veränderungen in vieler Hinsicht, die Versuche junger Menschen, verkrustete Strukturen aufzubrechen und der Enge von Familie und Gesellschaft zu entkommen bzw. sich mit der jüngeren Vergangenheit auseinanderzusetzen und kritische Fragen zu stellen. Auch die Sehnsucht und Suche nach einem besseren Leben und persönlichem Glück sind wichtige Themen.
Ein Veränderung fällt besonders auf: Die Autorin Ulla Hahn durchbricht die bisherige Erzählweise. Sie bringt sich von Anfang ein, was dazu führt, dass sich die Ebenen vermischen. (Auto-) Biographisches und Fiktion gehen ineinander über. So wird nicht klar, was genau autobiographisch in dem Buch ist und was Fiktion. Das ist beabsichtigt. Die Autorin möchte ihr „Kind“ glücklich sehen, sie will für Hilla sorgen, für ihr Glück, für ihr Fortkommen, für die Aussöhnung mit den Eltern.
Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Mir gefallen die Unterbrechungen nicht so recht und sie irritieren mich. Andererseits könnte ich mir vorstellen, dass – je mehr die Geschehnisse an die jüngere Vergangenheit reichen – sie das Trennen der Ebenen erschweren. Hier fehlt der Autorin (naturgemäß) die Distanz. Zu erkennen, was also Fiktion und was Autobiographisches ist, bleibt den Leserinnen und Lesern überlassen. Allerdings erschwert Ulla Hahn dadurch eine Nähe zu Hilla und ihrem Leben, was sie nun immer wieder einfangen muss, so dass ich in die Geschichte erneut eintauchen kann. Doch viele Szenen sind mit viel Witz und Humor erzählt, gepaart mit messerscharfer Beobachtung.
Nach wie vor gefallen mir vor allem die vielen Szenen, in denen Hilla und ihre Familie zusammenkommen. Hugo ist oft mit von der Partie, gehört dazu. Mit ihm wirken die Eltern viel freundlicher und liebevoller, entspannter sozusagen. Und Bertram, Hillas Bruder, mag ihn sowieso sehr. Das Ende vom Lied: Hugo krempelt die Familie total um. Mit ihm zieht auch in Dondorf, Alte Straße, ein Hauch von Glück ein.
Liebens- und lesenswert
In der Erzählweise teils sehr verschieden von den vorangegangenen beiden Bänden, doch immer noch lesenswert, spannend und authentisch. Die 1960er Jahre wie sie leiben und leben.
Deutsche Verlags-Anstalt/Pengiun Verlag - 2014 - Buch
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