Buch-Welt-Musik
Medium Rezension
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Strout, Elizabeth
Lucy Barton und ihre Geschichte
Sabine Roth
Elizabeth Strout, geboren 1956 in Maine, ist eine US-amerikanische Schriftstellerin.
Vielfach ausgezeichnete Autorin (Pulitzer-Preis, jüngst Siegfried-Lenz-Preis 2022 u.a.)
Die Unvollkommenheit der Liebe (2016)
In bislang vier Büchern widmet sich Elizabeth Strout der zweiten wichtigen Frauenfigur in ihrem Schaffen neben Olive Kitteridge. Lucy Barton ist ihre Heldin, eine erfolgreiche Schriftstellerin, die nicht so recht an diesen Erfolg glauben kann, die so ganz anders geartet scheint als die knorrige, zornige und doch liebenswerte Olive.
Lucy erzählt zum ersten Mal aus ihrem Leben in „Die Unvollkommenheit der Liebe“. Sie liegt im Krankenhaus nach eine komplizierten Blinddarm-OP. Zwischen Tag und Traum, Wachen und Dämmern erinnert sie sich an ihre trostlose, von Gewalt gezeichnete Kindheit in einem kleinen Kaff in Illinois. Sie und ihre beiden Geschwister Victoria und Pete leben in äußerster Armut, ständig in Angst vor der unberechenbaren gewalttätigen Mutter und dem durch den 2. Weltkrieg völlig aus der Bahn geworfenen Vater. Er war als Soldat in diesem Krieg gewesen und kommt mit dem Leben danach nicht mehr zurecht. In Lucys Dämmerzustand taucht plötzlich und mehr als unerwartet ihre Mutter an ihrem Bett auf, die sie seit Jahren nicht mehr gesehen und zu der sie nur sporadisch per Telefon Kontakt hatte. Sie war vom Schwiegersohn William über Lucys Krankhausaufenthalt informiert worden.
Lucy versucht, ihre Mutter in ein Gespräch über die Kindheit und die Ursachen für deren Verhalten zu ziehen. Doch die Mutter weicht immer wieder aus. Sie spricht lieber über die Menschen aus dem weiteren Lebensumfeld und ihre Fehler bzw. ihr Scheitern. Im Verlauf wird deutlicher, dass die Mutter auch ihre Geschichte hat und mit dem Ausweichen in gewisser Weise Hinweise gibt, die aber nicht so leicht als solche zu erkennen sind.
Am Ende ist Lucy, die sich sehr über ihr Kommen gefreut hat, fast froh, als sie wieder verschwindet. Lucy wird ihr Leben ohne Erklärungen oder Entschuldigungen von Seiten der Mutter, ohne ein tieferes Zeichen von Hinwendung oder gar Liebe weiterleben und ihren Weg gehen müssen, immer auf der Suche nach einem Zuhause, nach Liebe und Geborgenheit.
Alles ist möglich (2017)
In diesem Erzählband erkundet Elizabeth Strout das Umfeld, in dem Lucy Barton mit ihrer Familie aufwuchs. Wir begegnen den Menschen, die die Familie erlebt haben, erfahren, wie Bruder Pete und Schwester Victoria mittlerweile leben. Lucy taucht nur in einer Episode auf, die ihr eindringlich vor Augen führt, dass sie zwar der elterlichen Hölle dank der Hilfe einer Lehrerin, die sie förderte, entkommen konnte, ihre beiden Geschwister jedoch nicht. Alle Menschen, die ihre Geschichte hier erzählen, kämpfen mit ihrer Herkunft, mit Armut und Vernachlässigung als Kinder, mit Existenzsorgen und Zukunftsängsten. Allen gemeinsam ist, dass sie nicht aufgeben und sich ihren Platz und ihr Leben erkämpfen.
Oh William (2021)
In diesem Buch erzählt wieder Lucy selbst ihr Leben und ihre Geschichte. Sie ist nun Mitte Sechzig, ihr zweiter Mann David, den sie einige Zeit nach der Scheidung von William geheiratet hat, ist gestorben. Mit ihm war sie sehr glücklich und entsprechend trauert sie um ihn. Da tröstet es sie, dass William ihr zur Seite steht. Mittlerweile sind sie so etwas wie Freunde geworden. William ist in dritter Ehe verheiratet, hat mit dieser viel jüngeren Frau eine Tochter. Die beiden Töchter aus der Ehe mit Lucy sind erwachsen und haben ihre eigenen Probleme, halten aber die Verbindung zu beiden Elternteilen aufrecht. Man hat sich arrangiert und ist ganz zufrieden mit diesem Zustand.
Doch William schwächelt: In der neuen Ehe kriselt es, ja, er wird verlassen, das Älterwerden fällt ihm schwer. Lucy avanciert zu seiner Vertrauten. Und ihr erzählt er auch, dass er in einem Ahnenportal, dessen Zugang seine 3. Ehefrau ihm zum Geburtstag geschenkt hatte, einiges Merkwürdige über seine Mutter erfahren hat. Catherine Cole, so ihr Name, war für Lucy immer ein leuchtendes Vorbild an Vornehmheit und Wissen darum, wie man sich wo benimmt, bewegt und kleidet. Durch William und Catherine hat sie mühsam in das Leben der Bessergestellten gefunden, eine Art Bildungskanon durchlaufen. Nun müssen William und dann Lucy erfahren, dass Catherines Vorleben nicht dem Bild entspricht, das sie von sich selbst entworfen und gezeichnet hat. Und vor allem, dass sie schon einmal verheiratet gewesen war und ein Kind aus dieser Verbindung existiert.
William überredet Lucy, ihn auf der Suche nach dieser Schwester zu begleiten und ihn seelisch zu unterstützen. Es entwickelt sich eine Art Roadmovie, das die beiden in Williams Vergangenheit führt, mehr noch in die seiner Mutter, aber auch in Lucys. Jede Menge Überraschungen warten auf die Beiden, die sich nach langer Entfremdung wieder annähern. Nicht ohne Humor schildert Lucy ihre Reise in die Vergangenheit. Und insbesondere sie profitiert von den gewonnenen Erkenntnissen.
Beide Charaktere sind verletzlich, sensibel, anstrengend für sich und andere, doch mehr und mehr liebenswert und die Leser und Leserinnen bekommen Lust, sie auf ihrem Weg ins Alter weiter zu begleiten.
Lucy by the Sea (2022)
Dieses Buch, erschienen im Herbst 2022, gibt es bis jetzt (Dezember 2022) nur auf Englisch, das aber, da amerikanisches Englisch, nicht schwer zu lesen ist. Elizabeth Strout schickt die beiden, William und Lucy, auf eine Reise nach Maine, wo seine Familie herkommt und seine Halbschwester lebt. Er hatte vermieden, sie persönlich kennenzulernen. Nun zieht es ihn in ihre Nähe. Diese Annäherung geschieht wohl auch unter dem Eindruck der gerade beginnenden Corona-Pandemie Anfang 2020. Er überredet Lucy, ihn an die Küste von Maine zu begleiten und den Verlauf der Pandemie aus einem sichereren Umfeld als New York, wo sie wohnen, zu erleben. Lucy geht, wie die meisten, davon aus, dass ihr Aufenthalt sich nicht so lange hinziehen wird und begreift erst langsam, wie ernst die Situation ist.
Sie mieten ein Haus am Meer und verbringen dort die nächste Zeit bis ungefähr Mitte 2022. In dieser Zeit verändert sich alles und auch sie. Am Ende ist nichts mehr wie vorher, die politischen Ereignisse nach der US-Wahl 2019 bis 2022 erschüttern Williams und Lucys Vertrauen in das demokratische System der USA, die Pandemie fordert zudem ihren Tribut. Doch Lucy wäre nicht Lucy und William nicht William, wenn sie nicht weiter um ihren Platz im Leben kämpfen würden. Auch in ihrem zunehmenden Alter.
Übrigens gibt es in „Lucy by the Sea“ eine Art Begegnung mit Olive Kitteridge, die mittlerweile in einem Altersheim in der Nähe der Beiden lebt. So schließen sich Kreise. Ob „Lucy by the Sea“ das letzte Buch über Lucy und William ist, bleibt abzuwarten.
Lucy Barton - Ein Frauenleben
Mit viel Liebe, Humor, Scharfsinn und Genauigkeit begleitet Elizabeth Strout ihre Menschen. Sie sind unvollkommen, handeln nicht immer richtig, fallen, scheitern, stehen auf und machen weiter. Wie im richtigen Leben. Sie kämpfen und lassen sich nicht entmutigen. Im Laufe der Zeit werden sie zu Freundinnen und Freunden, von denen die Leser und Leserinnen gerne Neues erfahren.Die scheinbare Einfachheit der Texte darf nicht über etwas Entscheidendes hinwegtäuschen, wie es auch in der Begründung für die Verleihung des Siegfried-Lenz-Preises im Sommer 2022 heißt:
„Der Siegfried Lenz Preis würdigt so eine Autorin, deren Texte ungemein kunstvoll gebaut sind, die Genregrenzen zwischen Roman und Erzählung verwischen, von großer Humanität zeugen und in ihren wechselnden Perspektiven davon erzählen, welche Widerstandkraft die Einzelnen zu entwickeln vermögen, wenn sie gegen die Zumutungen des Lebens aufbegehren.“ Dem ist (fast) nichts hinzuzufügen, außer, diese wunderbare Autorin zu lesen.
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