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Medium Rezension
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Schreiber, Daniel
Buch – Daniel Schreiber – Nüchtern – Über das Trinken und das Glück
Erschienen zuerst 2014 bei Hanser Berlin
Philosoph mit Hang zur Erfahrung
geboren 1977, Autor einer Biographie über Susan Sonntag: Geist und Glamour ( 2007) sowie von Essays wie: Nüchtern (2014), Zuhause (2017) und Allein (2021)
Nüchtern durchs Leben oder betrunken?
In seinem 2021 erschienenen Buch „Allein“ erzählt Daniel Schreiber u.a. von seiner Trunksucht, die sein Leben fast zerstört hätte. Mich hat „Allein“ sehr beeindruckt. Deshalb und weil ich das Thema wichtig finde habe ich mir später „Nüchtern“ gekauft
Persönliche und gesellschaftliche Ursachen für Alkoholismus
Warum trinken Menschen? Warum werden Menschen süchtig, andere nicht? Wie sind bestimmte Synapsen im Gehirn verknotet, verbunden, was triggert das Verlangen? „Stellen Sie sich vor, wie Sie ein Walnussbrot aufschneiden, einen provenzalischen Ziegenkäse aus dem Einschlagpapier nehmen, ein paar Muskattrauben dazulegen und sich einen kalifornischen Pinot Noir ins Glas gießen. Wie Sie das Glas zum Mund führen, das weiche Aroma einatmen, einen Schluck nehmen und kurz darauf spüren, wie jenes warme Gefühl der Entspannung durch Ihren Körper fließt. Wie Sie eine Zufriedenheit spüren, die sich ein bisschen wie Glück anfühlt.“ Das Zitat aus dem Essay liest sich wundervoll, ich möchte auch so etwas essen und trinken. Ich kenne das beschriebene Gefühl, den beschriebenen Geschmack.
Nur, Alkohol und ich – das ist eine eher unglückliche Liebe: Ich vertrage wenig, mir wird oft übel und zu allem bekomme ich schnell Kopfschmerzen oder sogar eine allergische Reaktion, meistens auf irgendwelche Inhaltsstoffe. Ich tröste mich damit, dass ich auf diese Weise nie abhängig werden kann. Aber was ist, wenn man keinerlei inneren Schutz hat, wenn keine Warnglocken einem die Ohren voll tönen? Wenn es nicht bei einem Glas oder zweien bleibt? Wenn man nicht mehr davon loskommt? Immer mehr und mehr trinkt? Wenn alles aus dem Ruder läuft?
Welche Rolle spielen Kindheit, Jugend, Familie, Umfeld? Was hat die Gesellschaft damit zu tun? Daniel Schreiber zeigt auf, wie sehr unsere Gesellschaft auf Toleranz gegenüber Alkohol trainiert ist und wie negativ man dem alkoholkranken Menschen begegnet. Überall wird man zum Trinken animiert. Mir fällt dazu das Lied ein: „Drink doch eene met, stell dich nit esu an.“ Dieses Lied, eine Hymne auf die Freundschaft, das Miteinander im gemeinsamen Trinken – so positiv gemeint, kann auch anders verstanden werden. Da wird nicht akzeptiert, dass jemand nicht trinken möchte, egal, aus welchem Grund. Er wird zum Spielverderber, zum Weichling, der keinen Alkohol verträgt oder kein „richtiger“ Mann ist. Die Frau wird zur Zicke, zur Mimose. Beide werden zu Außenseitern. Erfolg und Trinken gehören in unserer Gesellschaft zusammen: Ein Erfolg „muss“ gefeiert werden – natürlich mit Alkohol. Nichttrinker als Spaßbremsen, die es nicht „richtig krachen“ lassen können – es gibt viele solcher Sprüche. Es wird dabei aber immer vorausgesetzt, dass die Spielregeln eingehalten werden. Man muss aufhören können. Aber viele hören nicht auf, laufen lange mehr oder weniger unerkannt als stille Alkoholiker mit, bis irgendwann einmal alles zusammenbricht. Und dann?
Nüchtern – spannend, intensiv und sehr ehrlich
Von Anfang an fand ich das Buch spannend, intensiv und beeindruckend ehrlich. Ich habe viel über Alkoholismus gelernt, über die unterschiedlichen Formen und Abläufe, was passiert, wenn Menschen sich vielleicht zum ersten Mal bewusstwerden, dass sie abhängig sind. Wie reagieren sie auf diese Erkenntnis? Was muss geschehen, damit sie das überhaupt zur Kenntnis nehmen? Wie viel Verdrängungsleistung verlangt diese Krankheit? Was führt dazu? Wie kommt man davon los? Was ist mit Prozessen biochemischer Art im Körper? Was passiert mit und im so genannten Körpergedächtnis? Was hilft bei dem Versuch, abstinent zu werden? Und wenn man geschafft hat, nüchtern zu werden, wie bleibt man in diesem Zustand? Daniel Schreiber belehrt nicht, er hat die Erfahrung gemacht und möchte sie weitergeben, mit seinem Buch anderen helfen, sich zu besinnen und den Mut für eine Umkehr zu bekommen, die Scham und das Schuldgefühl zu überwinden und sich sein Leben jeden Tag neu zurückzuholen.
Lebensnah, realistisch und hilfreich
Ein Buch für Betroffene und für Menschen, die sich kundig machen und die verstehen wollen, die Krankheit und die Kranken. Und darüber hinaus lassen sich viele Erkenntnisse auf andere Süchte übertragen. Es ist es überhaupt lesenswert, auch in Bezug auf Leben überhaupt.
Suhrkamp, Taschenbuch, 8. Auflage 2021 - 2021 - Buch
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