1116 Bayerische Staatsoper, Korngold, Erich Wolfgang Erich Wolfgang Korngold - Die tote Stadt Kirill Petrenko, Dirigent; Simon Stone, Regisseur Jonas Kaufmann, Marlis Petersen u.a. | Geboren 18897 in Brünn, gestorben 1957 in Los Angeles. Korngold war ein austro-amerikanischer Komponist, Dirigent, Arrangeur und Pianist. 1920 schon, also mit 23 Jahren, erreichte er seinen ersten großen Erfolg mit seiner Oper „Die tote Stadt“. Korngold sah sich als Vertreter der modernen Klassik. Er kam 1934 in die USA um zu komponieren. Er war jüdischer Herkunft und entschied er sich 1938 wegen des Nationalsozialismus ganz mit seiner Familie in die USA zu emigrieren. Er schrieb dort u.a. Filmmusiken und erhielt zwei Oscars, für die Musik zum Film „Ein rastloses Leben“ und „ Robin Hood, der König der Vagabunden“. Er geriet im Laufe der Jahre in Vergessenheit, wie so viele Emigranten. Seit einigen Jahren wird er neu entdeckt und seine Werke sind in vielen Aufnahmen wieder zu hören. Erich Wolfgang Korngolds Meisterwerk ist bis heute auf dem Programm von Opernbühnen zu finden. Sein Vater, Julius Korngold, hatte das Libretto unter einem Pseudonym für seinen Sohn geschrieben. Das Stück beruht auf einer Romanvorlage von Georges Rodenbach mit dem Titel „Das tote Brügge“ bzw. auf deren Schauspielbearbeitung „Das Trugbild“. Die größte Veränderung, die Julius Korngold vornahm, betrifft den Schluss. Der Protagonist erlebt den Großteil des Geschehens als Albtraum, aus dem er am Ende erwacht. Korngold war beeinflusst von Freuds Psychoanalyse und Traumdeutung. Dies spiegelt sich im Inhalt der Oper, die zwischen Traum und Realität changiert. Je nach Inszenierung wird klar, wie modern die Oper auch heute noch ist mit ihrem psychoanalytischen Tiefgang und geradezu filmischen Übergängen zwischen den einzelnen Szenen, die an den viel später agierenden Alfred Hitchcock erinnern. Paul lebt zurückgezogen und vereinsamt in seinem Haus in Brügge, gänzlich aufgesogen von der Trauer um seine verstorbene Frau Marie. Er verstört Freunde und seine Haushälterin mit dieser exzessiven Trauer, in der er niemand an sich heranlässt. Verzweifelt bittet er Gott, ihm Marie zurückzugeben.
In diese Zurückgezogenheit kommt Marietta, eine Fremde, die ihn in allem – Aussehen, Stimme, Bewegungen – an seine Frau erinnert. Paul ist ihr zufällig begegnet und hat sie zu sich eingeladen. Marietta ist Schauspielerin, Sängerin, Tänzerin. Paul inszeniert mit ihr, die keine Ahnung von seiner Obsession hat, eine Art Auferstehung Maries. Er gibt Marietta deren Schal und Laute, so dass die Ähnlichkeit noch verstärkt wird. Gemeinsam singen sie ein Lied, das von der Unsterblichkeit der Liebe über den Tod hinaus singt.
Diese Auferstehungsinszenierung wird gestört durch Mariettas Freunde, die gleichfalls dem Theater angehören, und die sie abholen, weil sie auftreten muss. Marietta hat inzwischen ein Porträt von Maria entdeckt und auch die Ähnlichkeit zwischen ihnen beiden. Bevor es jedoch zu einem Gespräch darüber kommen kann, muss sie aufbrechen zu ihrer Theaterveranstaltung. Sie sagt Paul, sie müsse in Giacomo Meyerbeers Oper „Robert le diable“ die Helena tanzen.
In ihrer Abwesenheit gerät Paul in einen regelrechten Rausch, in dem er die Vereinigung mit seiner toten Frau wieder herbeiruft. Nun vermischen sich Traum und Realität. Paul steigert sich in seinen Wahn, beginnt Streit mit Frank, einem Freund, dem er vorwirft, ihn mit Marietta zu betrügen. Der weiß natürlich von nichts und so trennen sie sich.
Paul ist hin und her gerissen zwischen der Treue zu seiner toten Frau und der erwachenden Liebe zu Marietta. Nach der Theatervorstellung, die Paul heimlich beobachtet, kehrt sie zu ihm zurück. Von seinen Schuldgefühlen überwältigt bringt er sie nach einer gemeinsamen Nacht um, weil sie sich über Marie lustig macht. Die Oper endet, indem Paul wie aus einem Traum erwacht und entdeckt, dass er Marietta nicht umgebracht hat, dass alles, was geschehen war, nachdem Marietta das Haus verlassen hatte, ein Traum war. Marietta kommt noch einmal zurück, um ihren Schirm und ihre Rosen zu holen. Sie verlässt Paul. Frank, sein Freund, sucht ihn auf. Paul erkennt, dass seine Trauer obsessive Züge trug und erklärt sich bereit, nunmehr Brügge, die tote Stadt, zu verlassen. Er akzeptiert, dass sein Totenkult gescheitert ist. Er kann Marie nicht am Leben erhalten. Es gibt keine Auferstehung im Diesseits. Jonas Kaufmann hatte sich gewünscht, die Rolle des Paul zu singen. Und als Star der Bayerischen Oper wurde ihm dieser Wunsch erfüllt, 60 Jahre nach der letzten Aufführung an dieser Bühne. "Das Ergebnis ist eine klug erdachte Neuproduktion auf höchstem musikalischem Niveau." So der Rezensent Neil Fisher in der "Times" vom 25. November 2019. Die Oper führt alle Beteiligten Sänger und Sängerinnen, insbesondere die beiden Hauptfiguren, an die Grenze ihres Könnens. Die Partien sind sehr strapaziös, stimmlich wie darstellerisch. Die exzessive Persönlichkeit Pauls, die hart an der Grenze zum Wahnsinn lebt, ist eine große Herausforderung für jeden Sänger. Auch die Rolle der Marietta ist mehr als anstrengend, muss sie doch die Untiefen Pauls ausloten und aushalten. Die Münchener Inszenierung schonte weder Marlies Petersen noch Jonas Kaufmann. Die beiden schenken sich nichts, sie sind ebenbürtig und excellente Darsteller und Sänger. Sie singen und spielen kongenial. Natürlich sorgt die berühmte und berührende Arie "Glück, das mir verblieb", die die beiden im ersten Akt singen, für Gänsehautmomente. Das kann bei dieser Musik gar nicht anders sein. Am Schluss der Oper singt Paul die Arie noch einmal. Jonas Kaufmann gelingt es, in dieser Wiederholung die ganze Trauer, den tiefen Schmerz und die vergebliche Sehnsucht hörbar zu machen. Die eigentliche Trauerarbeit beginnt erst. Das versteht Paul jetzt. Noch einmal Neil Fisher über die Inszenierung: "Im Spiel mit den verschiedenen Zeitebenen wird nie ganz klar, was Wirklichkeit ist und was Einbildung; die Inszenierung zeigt die emotionale Kälte des Stadtlebens, in der Trauer keinen Platz hat; gleichzeitig macht sie deutlich, dass man seine früheren Partner nie ganz und gar vergisst und immer ein Stück weit in jede neue Beziehung mitnimmt.“ (Rezension "Times" vom 25. November 2019) Fazit Eine überaus spannende, zeitgemäße und eindrucksvolle Inszenierung von Simon Stone, getragen von tiefem Mitgefühl und Menschlichkeit. Die Rolle des Paul ist Jonas Kaufmann wie auf den Leib geschrieben. Es gelingt ihm, die schwierige Partie voll und ganz auszufüllen. Seit Jahren schon begeisterte er sich für diese Oper. Nun ging sein Wunsch in Erfüllung. Marlies Petersen ist in jeder Hinsicht ebenbürtig. Kirill Petrenko – Kaufmanns Lieblingsdirigent bei Opern – leitet das Bayerische Staatsorchester einfühlsam, nuancenreich und ohne Sentimentalität. Alles in allem: Ein Glücksfall für die Oper und eine sehr schöne, empfehlenswerte DVD. Bayerische Staatsoper Recordings - 2019 und 2020 - DVD |