1111 Mendelsohn, Daniel Daniel Mendelsohn – Eine Odyssee – Mein Vater, ein Epos und ich auf Englisch erschienen bei Alfred A. Knopf, New York, 2017 Matthias Fienbork | Daniel Mendelsohn (geb. 16. April 1960 auf Long Island, New York) ist ein US-amerikanischer Schriftsteller, Übersetzer, Journalist und Kritiker für verschiedene US-amerikanische Magazine. Er ist Altphilologe und studierte u.a. an der Princeton-University. 1994 promovierte er in Classical Studies. Er übersetzte Gedichte von Konstantin Kavafis ins Englische. 1999 veröffentlichte er sein erstes Buch „The Elusive Embrace“. Weitere Werke erschienen auf Englisch. Auf Deutsch ist bislang erhältlich sein preisgekröntes Familiendrama „Die Verlorenen. Eine Suche nach sechs von sechs Millionen“ (2006 auf Englisch, 2010 auf Deutsch), das den Holocaust und dessen Auswirkungen auf seine Familie zum Thema hat. 2019 erschien „Odyssee – Mein Vater, ein Epos und ich“ auf Deutsch (Englisch 2017). Als der 81jährige pensionierte Mathematiker Jay Mendelsohn seinem Sohn Daniel eröffnet, er wolle an dessen nächstem Seminar zur „Odyssee“ von Homer teilnehmen, ist der alles andere als begeistert. Zum einen ist das Verhältnis zum Vater schon immer angespannt. Nicht wegen der Homosexualität Daniels, sondern wegen der hohen Ansprüche, die der Vater an seine Söhne stellt. Daniel stand und steht immer unter Druck, die Anerkennung des Vaters erarbeiten zu müssen. Ziele und wie man sie erreicht, das war wichtig, für Gefühle die Mutter zuständig. So suchte Daniel Zuwendung und Anerkennung immer außerhalb der Familie. Zum anderen fürchtet er sich vor den Reaktionen des Vaters auf die „Odyssee“, zumal schon vorher klar ist, dass der das Epos nicht mag, es aber lesen will, weil er das immer wollte. Ihn stört, dass Odysseus oft weint: Wieso weint er? Und was ist an dem so heldenhaft? Daniel sieht sich von ihm schon lächerlich gemacht vor seinen Studenten. Interessanterweise stört der Vater aber gar nicht. Die Studenten mögen ihn, denn er stellt Fragen, auf die sie noch gar nicht gekommen waren oder die sie sich nicht getrauen zu stellen. Und Daniel muss sich selbst fragen, ob nicht einiges an diesen kritischen Anmerkungen dran ist. Gemeinsam machen sie sich also an das ca. 3000 Jahre alte Epos. Und mit ihnen können das nun auch die LeserInnen tun und erkennen: Das Alte ist ja gar nicht so alt. Wenn man unvoreingenommen herangeht, dann stellt man fest: Die alten Konflikte und Sorgen sind von unseren nicht weit entfernt. Und es ist eine spannende Geschichte. Diese Spannung hat auch mit der Herangehensweise zu tun: Daniel Mendelsohn liest das Epos als eine Vater-Sohn-Geschichte. Odysseus und Telemachos, sein Sohn, sind die Protagonisten. Der Vater ist seit zwanzig Jahren unterwegs, irrt auf den Meeren umher, versucht, nach Hause zu kommen, scheitert mit diesen Versuchen. Der Sohn, der den Vater gar nicht kennengelernt hat, weiß nicht einmal, ob der überhaupt noch lebt und was er denn in all den Jahren getan hat. Er weiß gar nichts über ihn und von Liebe zu ihm kann keine Rede sein. Eigenartigerweise beginnt die „Odyssee“ nicht mit dem Titelhelden, sondern mit dem Sohn. Telemachos wird auf eine Reise geschickt, die ihn zu ehemaligen Weggefährten des Vaters führt. Von ihnen erhofft er sich Auskünfte über dessen Verbleib. Warum beginnt das Epos mit dem Sohn und nicht dem Vater? Was hat es damit auf sich? Bewegen sich Vater und Sohn auf verschlungenen Pfaden aufeinander zu und was steht dem im Wege? Diese und andere, nicht minder spannende Fragen (z.B. Rolle und Einfluss von Kriegen auf die Menschen und die jeweiligen Gesellschaften, auf Sieger und Verlierer), werden angesprochen. Ihren schwierigen Weg zueinander erzählt der Autor anhand der eigenen Vater-Sohn-Geschichte. Dabei kommen sich die Beiden so nah wie nie zuvor, vor allem auf der gemeinsamen Reise zu den Orten des Epos, also auf den Spuren von Odysseus. Der Sohn entdeckt den Vater, der Vater den Sohn. Epos und eigene Lebenswirklichkeit begegnen sich. Lebendig, kundig, klug und spannend erzählt Das Buch hat mir großen Spaß gemacht. So lasse ich mir alte Epen gerne gefallen. Zumal, wenn ich erkennen kann, dass sie immer noch funktionieren, dass es Bezüge zu unserem Leben gibt. Die Vater-Sohn-Thematik ist heute genauso aktuell wie zu allen Zeiten. Und wieder bewahrheitet sich Folgendes: Es kommt immer darauf an, wie etwas erzählt wird, ob wir mit Vorurteilen an etwas und jemand herangehen, oder ob wir offen sind für andere Sichtweisen. Daniel Mendelsohn muss in seinem Seminar lernen, seine Vorstellungen vom Epos und dem Umgang damit den Gegebenheiten vor Ort anzupassen und seine StudentInnen viel stärker einzubeziehen. Die frische, unorthodoxe Fragestellung seines Vaters führt zu einer offeneren Diskussion, gerade weil der etwas respektlose Umgang seines Vaters und der Studenten mit dem Epos das Ganze reizvoller macht. Vater und Sohn lernen sich neu und nun erst richtig kennen. Ein lebenskluges, feines Buch, oft witzig oder berührend. Und richtig gut erzählt. Davon gerne mehr. Siedler-Verlag, München, gebundene Ausgabe - 2019 - Buch |