1110 Stanisic, Sasa Sasa Stanisic – Vor dem Fest Taschenbuch | Saša Stanišic wurde 1978 in Bosnien geboren und lebt seit 1992 in Deutschland. Wer mehr zu ihm wissen will: In meinen Rezensionen zu „Herkunft“ und „Wie der Soldat das Grammophon repariert“ habe ich einiges dazu geschrieben. Neben vielen anderen Preisen erhielt er 2014 den Preis der Leipziger Buchmesse für „Vor dem Fest“ und 2019 den Deutschen Buchpreis für „Herkunft“. Seine Bücher sind mittlerweile in vielen Sprachen erschienen. Was macht ein Dorf zu einem Dorf? Was braucht es dazu?
Landschaft, Häuser, Menschen natürlich, Frauen, Männer, Kinder, Jugendliche. Tiere, domestizierte und freie, beispielsweise ein Fuchs bzw. eine Füchsin mit hungrigem Nachwuchs. Bauern, die die Füchsin nicht gerne in ihrem Hühnerstall sehen. Eine Kirche mit Turm und Glocken, einen Glöckner, der sie läutet. Evtl. noch ein Lehrling – die Tradition muss weitergegeben werden. Traditionen sind wichtig, Feste z.B., Geschichten aus der Vergangenheit, die zu Mythen wurden, die weitererzählt werden. Deshalb gehört ein Museum ins Dorf, um das alles zu sammeln. Schön wäre noch ein Fluss oder besser ein See mit kleinen Inseln darin. Ein See mit Boot. Dann braucht es aber auch einen Fährmann. Der muss ja die Leute fahren, überfahren, wohin auch immer. Ein Charon wird nun mal gebraucht. Ja, dann fehlt noch eine junge, hübsche Frau. Anna eben.
In der Vergangenheit war das alles noch da, so erzählen es die Mythen des Dorfes. In der Vergangenheit gab es eine Zukunft. In der Gegenwart allerdings wird es schwierig: Der Fährmann ist tot, weshalb und wie er gestorben ist, weiß niemand. Die Glocken sind verschwunden, keiner weiß warum und wohin. Glöckner und Lehrling haben ein Problem. Die Museumswärterin, Frau Schwermuth, macht ihrem Namen alle Ehre, Frau Kranz, die Malerin, malt gerne nachts, ist aber leider nachtblind. Lada ist kein Auto, sondern ein Raubein, das gerne Autos im See versenkt. Herr Schramm, einstmals - vor der Wende – NVA-Oberst, sucht eher nach Gründen gegen das Leben als dafür. Ullis Garage wiederum ist für alle geöffnet. Er hat für die Gescheiterten, für die Unglücksgestalten des Dorfes und der angrenzenden Plattenbauten einen Raum geschaffen, wo sie ihre Wunden lecken können. Hier darf jeder machen, was er will. Solange Ulli nichts dagegen hat. Gelebte Demokratur. Und Anna kümmert sich nicht darum, was mit ihr geschehen soll, auf dem Fest. Dabei dürfte es insbesondere sie interessieren. Die Füchsin ist derweil hungrig, ihr Nachwuchs noch viel mehr. Und die Hühner - vor allem ihre Eier - sind in einem Stall, so nah und doch so fern. Wölfe kommen auch wieder. Dafür sorgt Lada. Als Tattoo hat er sie schon. Und nicht nur er. Es ist Nacht, dunkle Nacht, die Nacht vor dem großen Fest. Die Geister, gute und böse, entschlüpfen den Gräbern und Büchern, das Dorfarchiv ist geöffnet. Wer weiß, wer oder was da entweicht. Gestalten aus alten Geschichten und Mythen wissen: Diese Nacht ist ihre Chance. Saša Stanišic, für den Heimat nicht nur ein Wort oder lediglich ein Ort ist, erzählt in einem Interview mit dem Bayerischen Rundfunk (2014) Folgendes: Er hatte sich ein Dorf erschaffen, ein Dorf und eine Heimat. Ein Phantasiedorf. Er bevölkerte es mit allem, was dazu gehört (s.o.). Und als er mit seiner Phantasie einigermaßen vorangekommen war, erzählte er einer Freundin von seinem Projekt. Ihre Antwort (sinngemäß): „Du, ich kenne dieses Dorf. Es liegt in der Uckermark. Du solltest dorthin fahren.“ Nun, er fuhr dorthin, recherchierte mehrere Jahre, sprach mit den Menschen dort. Das Ergebnis: Vor dem Fest. Ein Phantasiedorf, das - so die Anspielungen im Roman - auch an anderen Orten funktioniert und ein ganz spezielles Dorf, Fürstenfelde, im Osten Deutschlands gelegen, mit seiner spezifischen Geschichte, die weit zurückreicht: Von der Nachwende- über die Vorwendezeit, die Zeit der DDR, der Zeit nach und vor 1945 und noch weiter zurück in die unausdenklichen Weiten der Geschichte und der Prähistorie. Denn: Die Ahnen sind immer dabei, wie der Sinnspruch, das Motto, zu Beginn des Romans signalisiert. Verrückt, absurd, traurig, komisch, wild und manchmal zärtlich Ich fand das Buch total verrückt, absurd und dachte die ganze Zeit: Was mache ich hier? Wieso lese ich das? Und das Verrückteste: Ich wollte weiterlesen. Solch ein Buch kannte ich noch nicht. Das war etwas ganz anderes. Ja, verrückt, ja absurd, aber auch witzig, schräg, komisch, wild und lässig, so unglaublich lässig. Das muss man können. Saša Stanišic kann das. Er ist ja ein Zauberer, die können das. Und die Geschichte der Entstehung dieses Buches hat mir überaus gefallen. Man erfindet sich ein Dorf und entdeckt dann, dass es das schon gibt, mehr oder weniger. Wer es kann, der kann es eben. Sind Sie also auf der Suche nach Abenteuern, nach Unbekanntem, nach etwas Neu-Altem, vielleicht etwas Grusel? Dann ist Fürstenfelde der richtige Ort für Sie. Da müssen Sie hin. btb-Verlag - 2015 - Buch |