Buch-Welt-Musik
Medium Rezension
1100
Gardam, Jane
Jane Gardam - Old Filth, Betty, Terry Veneering und die anderen
Isabel Bogdan
Jane Gardam - Von Yorkshire aus um die Welt (jedenfalls einem nicht unbeträchtlichen Teil daraus)
Jane Gardam, Jahrgang 1928, stammt aus North Yorkshire. Sie wurde zweimal mit dem Whitbread/Costa Award aufgezeichnet und landete mit „Old Filth“ (Ein untadeliger Mann) auf verschiedenen Bestsellerlisten. Sie schreibt und beschreibt Menschen, Ereignisse und Zeiten mit viel Humor, Witz und Warmherzigkeit. Sie schreibt für Kinder und Erwachsene. Erst im Alter von 43 Jahren veröffentlichte sie ihren ersten Roman.
Old Filth - Ein untadeliger Mann
Edward Feathers, genannt Old Filth, ist alles in allem ein Gentleman vom Scheitel bis zu Sohle. Untadelig und makellos. Vielleicht auch ein bisschen distanziert. Er war Anwalt in Hongkong, als es noch britische Kronkolonie war. Eine glänzende Karriere, eine treue Ehefrau, selbst erfolgreich. Die beiden sind steinreich und haben sich auf ein schönes, ruhiges Haus in Dorset zurückgezogen. Kinder gibt es nicht. Sie können ganz für sich und ihre Hobbies leben. Sie haben sich in einem langen Leben miteinander arrangiert und genießen dieses Miteinander, das allerdings auch in einer gewissen Routine erstarrt scheint.
Doch hinter dieser ruhigen, glatten Oberfläche liegen tief verborgen schwere Erinnerungen, Verletzungen und Entbehrungen. Die glückliche Kindheit in Malaysia, die einsame Jugend in Wales bei einer mehr als hartherzigen Pflegmutter. Old Filth gehört zu den so genannten Raj-Waisen, Kindern englischer Angehöriger der Oberschicht bzw. des Militärs, die in Asien bzw. im „Empire“ stationiert waren. Sie schickten ihre Kinder sehr oft zurück in die Heimat, damit sie den Kontakt zu England und seiner Lebensart nicht verloren. Viele dieser Kinder machten traumatische Erfahrungen, die i.d.R. ignoriert wurden. Als Old Filth‘ Frau Betty überraschend stirbt, brechen sie auf und er macht sich auf eine Reise in die Vergangenheit, zu seinen Geheimnissen, die auch Betty nicht kannte, und zu Menschen, die er aus dieser Zeit kennt und die noch leben.
Betty - Eine treue Frau
Betty, die Frau von Old Filth, ist die Protagonistin dieses Buches. Hat man seine Geschichte kennengelernt, so erfährt man mit diesem Band ihre Geschichte. Und die weist in einigen Punkten ganz erhebliche Unterschiede zu seiner Version auf. Betty ist eine sehr eigene, sehr selbstständige Frau. Sie hat auch ihre Geheimnisse, von denen Old Filth keinen Schimmer hat. Und seinen Lieblingsfeind, Terry Veneering, kennt sie viel besser, als er je ahnen wird. Ihre Lebenswege kreuzen sich immer wieder. Old Filth verbleibt in seiner ablehnenden Haltung zu Terry Veneering, während Betty viel tiefer sieht und versteht.
„Die Leute von Privilege Hill“ und „Letzte Freunde“
Thema mit Variation: Zu den schon bekannten Personen Old Filth, Betty, seiner Frau, und Terry Veneering, Old Filth‘ Lieblingsfeind, gesellen sich noch andere Figuren mit ihren Geschichten. Allen gemeinsam ist ein mittlerweile hohes Alter und verschiedene gemeinsame Erlebnisse und Erfahrungen. Skurril sind sie alle ein bisschen, manche sogar ein wenig verrückt, aber doch liebens- und vor allem lesenswert. Und die Texte haben es - wie immer bei Jane Gardam - in sich. Da gibt es jede Menge Unter- und Zwischentöne. Manchmal sind sie ganz schön boshaft oder entlarvend, obwohl oder weil sie so "harmlos" daherkommen.
Bell und Harry - Geschichte einer Freundschaft
Harry, Sprößling aus einer Londoner Familie verbringt seine Ferien regelmäßig in einem alten Farmhaus in Yorkshire. Dort freundet er sich mit Bell, dem Sohn seiner Vermieter an. Über die Jahre hinweg erleben sie viele Abenteuer – manche nicht ganz ungefährlich, aber immer sehr spannend. Und Harry lernt viele Menschen, die dort leben, kennen. Manche sehr nett, andere aber schwierig und merkwürdig. Doch selbst die sind nicht immer so schrecklich, wie sie scheinen.
Jane Gardam ist ein Buch für die ganze Familie gelungen: Für Heranwachsende, die sich an Bell und Harry erfreuen, für Erwachsene, die den Witz und den Humor dieser Autorin schätzen lernen können. Mir gefallen insbesondere die Kapitel „Die Eierhexe“ und „Granny Crack“. Harry macht hier die Bekanntschaft mit einer ganz frommen Familie, auf die er auf seine Weise reagiert, und mit deren Großmutter, die es faustdick hinter den Ohren hat. Aber nichts ist, wie es scheint. Und alles bleibt im Fluss …..
Ein rundum gelungenes Buch voller Humor, Abenteuern und schrulligen Menschen, denen ich gerne begegnet wäre.
Weit weg von Verona
Jessica ist ein Mädchen in der Pubertät, eigenwillig und unangepasst. Sie und ihre Familie leben wärend des 2. Weltkrieges in England. Der Vater war - ist - Housemaster an einer Schule und die ganze Familie macht den Eindruck, sehr eigenwillig zu sein. Jessica beschreibt sich als "nicht ganz normal, nicht sehr beliebt, sie redet, wie ihr der Schnabel gewachsen ist und sagt immer und überall die Wahrheit". Das bringt sie und ihre Familie nicht selten in gesellschaftliche Turbulenzen, ganz zu schweigen von den Schrecken des Krieges. Doch sie lässt sich nicht unterkriegen und verliert nie ihren Traum aus den Augen: Sie möchte Schriftstellerin werden.
Ein mitreißendes Buch über Kindheit und Jugend und deren Ende. Ernsthaft, humorvoll, wie immer bei Jane Gardam.
Robinsons Tochter
Polly Flint und Jessica haben viel gemeinsam: Sie sagen, was sie denken. Auch Polly ist unangepasst und eigenwillig. Sie wächst Anfang des 20. Jahrhunderts in Yorkshire, England, bei ihren beiden Tanten Mary und Frances auf. Dort hat sie ihr Vater, ein Seemann, gelassen. Pollys Mutter starb, als das Kind ein Jahr alt war. Seitdem war sie bei verschiedenen Pflegefamilien untergebracht, an die sie nur wenige und schlechte Erfahrungen hat. Auch ihr Vater stirbt bald, nachdem Polly bei ihren Tanten angekommen ist. Sie wächst relativ einsam auf, ein Kind unter lauter sehr frommen Erwachsenen auf. Ausbrüche von Liebe sind von den Tanten nicht zu erwarten, aber insgesamt wird Polly sehr gut behandelt und insbesondere Tante Frances ist ihr auf ihre zurückhaltende Art sehr zugetan. Eines Tages entdeckt Polly "Robinson Crusoe" von Daniel Dafoe. Sie vergleicht Robinsons Leben auf einer Insel mit ihrem Leben und findet, sie lebt auch auf einer Art Insel. Das Buch verhilft ihr zu einer Art Lebensstragie bzw. Überlebensstrategie. So übersteht sie zwei Weltkriege und persönliche Enttäuschungen. Das Buch hat auch einen negativen Einfluss auf sie, weil sie sich darin verbeißt und irgendwann den Bezug zum Leben zu verlieren droht. Aber da hilft ihr Alice, das Hausmädchen und spätere Freundin heraus. Und auch andere Menschen, die Polly sehr zugetan sind. Am Ende kann sie auf ein reiches und sehr eindrucksvolles Leben zurückblicken.
Robinsons Tochter ist eines der ersten Bücher Jane Gardams und in England schon 1986 veröffentlicht worden. Im Jahr 2020 erschien es endlich auf Deutsch. Das Buch ist ebenso berührend wie humorvoll - wie immer sind Charaktere sehr lebendig geschildert, mit all ihren Verrücktheiten, Sehnsüchten und sie sind immer für eine Überraschung gut.
Jane Gardam - Humor, Witz, Ironie und Lebensweisheit
Ihre Bücher zeichnen sich durch ebendiese Vorzüge aus. Sie ist oft lakonisch, nicht sentimental, aber immer bei den Menschen, die sie vorstellt. An der Oberfläche scheint sie leicht, aber Vorsicht, es gibt Tiefen und Untiefen. Man muss sie entdecken und zu lesen verstehen. Hier wird so manches zwischen den Zeilen erzählt. Es lohnt sich, diese Autorin zu entdecken, der nicht nur in ihrer Heimat ein Kultstatus eingeräumt wird. Hält auch beim zweiten und dritten Lesen stand.
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