1085 Baum, Vicki Vicki Baum - Menschen im Hotel Erstmals erschienen 1929, Neuauflage 1988, 2002, 2007, Taschenbuch | Die Autorin (eigentlich Hedwig Baum) wurde am 24. Januar 1888 in Wien geboren, sie starb am 29. August 1960 in Hollywood. Sie war zunächst Musikerin (Harfenistin) an verschiedenen Konzerthäusern in Deutschland. Sie ging dann nach Berlin und arbeitete als Redakteurin. Mit ihrem frühen Roman „Stud. Chem. Helene Willfüer“ wurde sie schlagartig bekannt und gehörte später zu den erfolgreichsten Schriftstellerinnen der Weimarer Republik. Ihre Stärken sind u.a. die Aktualität ihrer Themen mit ihrer Behandlung der sozialen Probleme sowie ihre präzisen Milieuschilderungen. Ihre Romane sind zum einen spannende Unterhaltungsliteratur, zum anderen aber auch sprachlich interessant, weil oft witzig, ironisch, unsentimental, lassen aber durchaus Mitgefühl mit ihren Protagonisten erkennen. Ihre Romane sind ein wichtiger Beitrag zur so genannten „Neuen Sachlichkeit“. Sie schrieb zudem Drehbücher zu ihren Romanverfilmungen. Ihre Dramatisierung des Romans „Menschen im Hotel“ wurde am 26. Januar 1930 im „Theater am Nollendorfplatz“ uraufgeführt.
Ab 1931 lebte sie in den USA. Dorthin war sie gereist, um an der Verfilmung des Buches mitzuwirken (Grand Hotel). Das Buch war schon früh ins Englische übersetzt worden und seine Dramatisierung wurde am Broadway in New York aufgeführt. Ihre Bücher fielen 1933 der Bücherverbrennung durch die Nationalsozialisten zum Opfer, die sie 1938 ausbürgerten (sie stammte aus einem jüdischen Elternhaus). Sie blieb in den USA und nahm die amerikanische Staatsangehörigkeit an. Sie war verheiratet und hatte zwei Söhne. Ihre Romane wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und verfilmt, „Menschen im Hotel“ allein dreimal, u.a. mit Greta Garbo und John Barrymore, sie sind immer noch sehenswert. Ihre Bücher werden bis heute verlegt. 2018 erschienen in Buchform eine Reihe ihrer feuilletonistischen Texte, die sie für unterschiedliche Zeitschriften und Zeitung verfasst hatte.
Im Berliner Grand Hotel trifft eine Hand voll Menschen zufällig aufeinander. Da ist die alternde Primadonna Grusinskaja, ausgebrannt, einsam, voller Angst vor dem Ende ihrer Karriere und dem Verlust ihres Publikums und nicht zuletzt ihres bisherigen Lebensinhaltes, dem Tanzen und dem Beifall der Menschen.
Da ist Herr Dr. Otternschlag, ein Kriegsversehrter, dem bei einem Angriff das halbe Gesicht zerstört wurde. Er trägt immer Morphium bei sich, um seinem ebenso zerstörten Leben, wenn es unerträglich werden sollte, ein Ende setzen zu können. Er lebt im Grand Hotel und erkundigt sich jeden Tag beim Portier, ob irgendjemand nach ihm gefragt oder eine Nachricht für ihn hinterlassen hat. Das muss der Portier immer verneinen. Es fragt niemand nach dem Arzt.
Baron von Gaigern ist ein weiterer Gast, jung, überaus gewinnend in seinen Manieren und in seinem Umgang mit Menschen. Bei seinem Anblick leuchten Gesichter auf. Er hat eine Aura von Wohlgestimmtheit um sich, die ansteckend auf andere wirkt. Aber der junge Mann aus gutem Haus, ebenfalls im Krieg verletzt, wenn auch weit weniger schrecklich, verbirgt ein anderes Gesicht als das, was ihn so sympathisch erscheinen lässt und das werden einige Menschen noch kennenlernen. Allerdings macht ihm sein gutes Herz immer wieder einen Strich durch seine diebischen Berechnungen.
Herr Generaldirektor Preysing logiert ebenfalls im Grand Hotel. Er steht mächtig unter Druck von Seiten seines Schwiegervaters, in dessen Geschäft er eingeheiratet hatte, und der ihn für unfähig hält. Daran ändert auch nichts seine scheinbar glückliche Ehe mit seinen Kindern. Er ist geschäftlich im Hotel und die Geschäfte laufen denkbar schlecht.
Die Sekretärin Flämmchen (Flamm II, Schwester von Flamm I), neunzehn Jahre jung, lebenshungrig, der beengten Verhältnisse bei sich zuhause überdrüssig, ist in ständiger Geldnot und arbeitet deshalb nicht nur als Bürokraft, sondern auch als Fotomodell, mehr oder weniger ehrbar.
Bleibt noch der Buchhalter Otto Kringelein. Er hat eine kleine Summe geerbt, ist todkrank, und aus seinem bisherigen, schon lange als tot empfundenen Leben, ausgebrochen. Er ist bei Herrn Generaldirektor Preysing als Buchhalter angestellt, leidet unter ihm und seiner eigenen schrecklich nörglerischen Frau. Im Angesicht des Todes erwacht in ihm der Wunsch, wenigstens einmal in seinem Leben das Gefühl zu haben, wirklich zu leben, sich lebendig zu fühlen. Er will unbedingt im Grand Hotel einchecken, das für ihn den Inbegriff des gehobenen Lebensgefühls verkörpert. Zudem will er es seinem Chef gleichtun, der hier immer absteigt, wenn er in Berlin ist. Kringelein – ein sprechender Name – ist die Unterordnung und das Kriechen satt und bereit, alles auf eine Karte zu setzen. Und irgendwie ist er das geheime Zentrum des Buches. Seine Verwandlung ist der eigentliche Höhepunkt des Romans.
Doch die Person, die das Karussell in Gang hält, ist Baron von Gaigern, der Liebling vieler Menschen im Hotel.
Diese Personen treffen aufeinander, lernen sich kennen, schätzen, lieben, begleichen Rechnungen, berühren einander für Minuten, Stunden und gehen wieder auseinander, kommen sich näher und bleiben dennoch für sich, allerdings nicht alle. Spielerische Leichtigkeit und ironische Brillianz Und Kringeleins Verwandlung, an der Gaigern einen nicht unerheblichen Anteil hat, ist außerordentlich einfühlsam und beeindruckend geschildert. Allein die Szene, in der er unter der Führung Gaigerns völlig neu eingekleidet wird, ist ein Kabinettstück. Da wird der Mensch Kringelein gehäutet, der gekrümmte, der getretene, der uninteressante Kringel am alleräußersten Rande. Er häutet sich wie eine Schlange, die ihre alte Haut abwirft und aus Kringelein, dem gekrümmten, wird ein Mensch mit Rücken, der sich aufrichtet und ein anderer wird, einer, der er immer sein wollte. Wie lange er dann noch zu leben hat, ist eine andere Geschichte. Die können sich die Leser dann selbst erzählen.
Das Buch ist heute so aktuell wie damals, Vicki Baums Beschreibung der Menschen, die sich in einem Hotel begegnen, hat nichts von seinem einstigen Reiz verloren. Die Schicksale interessieren und berühren auch heute. Dies liegt u.a. an ihrer Sprache: klar, manchmal lakonisch, distanziert, locker, frech, witzig, ironisch. Und doch durchaus mitfühlend mit ihren Figuren. Sie kommt ihnen nahe, ohne sie vorzuführen. Sie lässt ihnen ihre Würde. Sie leben ihr Leben wie wir heute, manchmal machen sie dies gut, manchmal schlecht, ihre Gefühle sind die unseren. Deshalb ist das Buch außerordentlich gut lesbar, in keiner Weise veraltet. Jeder ihrer Protagonisten hat seine Gründe, die Frauen wie die Männer, sie alle sind nachvollziehbar: Menschen im Hotel eben. Kurze, teilweise leidenschaftliche, Begegnungen und dann geht man auseinander, sieht sich nie wieder. Lebensschicksale haben sich entschieden, die Drehtür des Hotels weht die Menschen herein, sie wehen wieder hinaus und die nächsten Gäste des Hotels kommen mit ihren Geschichten und Schicksalen.
Viele Stellen im Buch sind großartig geschrieben. Da sieht man über kleine Schwächen hinweg. Vicki Baum selbst hielt ihren Baron von Gaigern für nicht ganz gelungen. Trotzdem: Er funktioniert durchaus.
Kiepenheuer & Witsch - 2007 - Buch |