Das Leben zweier Familien gerät durcheinander, als sich die junge Asya aus der Türkei und die gleichaltrige Armanousch aus den USA begegnen und sich die gemeinsame Geschichte und das, was sie trennt, nicht länger verdrängen lassen.
Medium | Rezension |
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1065 Shafak, Elif Der Bastard von Istanbul Aus dem Englischen von Juliane Gräbener-Müller | Zur Person Elif Shafak, in Straßburg geboren, gehört zu den meist gelesenen Schriftstellerinnen der Türkei. Sie schreibt auf Englisch und Türkisch. Inhalt Das Leben zweier Familien gerät durcheinander, als sich die junge Asya aus der Türkei und die gleichaltrige Armanousch aus den USA begegnen und sich die gemeinsame Geschichte und das, was sie trennt, nicht länger verdrängen lassen. Die Familie Kazanci Asya Kazanci wird 19 Jahre alt, lebt in Istanbul mit ihrer Mutter, die sie Tante Zeliha nennt, den drei Schwestern ihrer Mutter sowie zwei Großmüttern in einem Konak (einem vergleichsweise großen Haus). Sie ist unehelich geboren, deshalb der Titel. Sie hadert altersgemäß mit Gott und der Welt sowie mit ihrer Familie und ihrer Mutter. Wohl fühlt sie sich nur im Café Kundera, wo sie sich mit Freunden trifft, die allerdings samt und sonders um einiges älter sind als sie selbst. Warum das Café so heißt ist genauso skurril wie der Kreis der Menschen mit denen sie zusammensitzt. Ihre Familie ist nicht weniger skurril, aber irgendwie sind ihre Mitglieder doch auch liebenswert. Tante Zeliha hat ihre eigene Geschichte, die im Laufe des Romans besser verständlich wird, ist unglaublich schön und immer noch rebellisch wie in ihrer Jugend. Tante Banu ist eine muslimische Mystikerin, die sich als Wahrsagerin betätigt und ständig mit zwei Dschinnen auf ihren Schultern zu tun hat, die außer ihr niemand sieht. Aber gerade diese haben es in sich, wie sich im Fortgang der Geschichte erweist. Tante Feride wiederum wechselt mit ihren jeweiligen seelischen Erkrankungen Haarfarbe und Frisur. Ansonsten ist sie eher friedlich. Tante Cevriye war einmal unglücklich verheiratet, ihr Mann starb auf mehr kuriose als tragische Weise. Nun arbeitet sie als Geschichtslehrerin. Und da sind noch Petite-Ma, die sehr liebenswert, aber zunehmend dement ist und Oma Gülsüm, Zelihas Mutter, vom Leben enttäuscht, hart und oft ungerecht. Männer gibt es bei den Kazancis nicht mehr, sie starben alle früh. Sie starben so häufig, dass Mustafa, der einzige Sohn und Enkel in die USA geschickt wurde, damit ihn nicht das gleiche Schicksal ereilt. Die Familie Stamboulian-Tchakhmakhchian Armanousch ist auch 19 Jahre alt, lebt in Arizona bei ihrer Mutter oder in New York bei ihrem Vater bzw. bei seiner Familie. Ihre Familie kam durch die Ermordung Tausender Armenier in der Türkei im ersten Weltkrieg in die USA. Bis in die Gegenwart ist das Leben von dieser Erfahrung geprägt. Obwohl beide Familien nicht nur räumlich getrennt scheinen, ähnelt sich doch ihr Familienleben. Beide Familien lieben, streiten sich unaufhörlich, bemuttern alle Mitglieder, bevormunden dabei alles und jeden. Und wollen immer alles vom anderen wissen. Und haben doch immer wieder kleine und große Geheimnisse voreinander. Armanousch liebt ihre Familien, aber am wohlsten fühlt sie sich im Café Constantinopolis. Das ist ein Chatroom, wo sie ihre Freunde trifft, die allesamt nicht unter ihrem wirklichen Namen schreiben. Hin und her gerissen zwischen ihrer Mutter und deren Ehemann Mustafa (dem ins Exil zum Überleben geschickten Sohn der Familie Kazanci) und ihrer armenischen Familie, beginnt sie, über ihr Armenisch-Sein und über die Beziehung der Armenier zur Türkei und Türken nachzudenken. Und so kommt sie auf die Idee, die Familie ihres Stiefvaters zu besuchen und selbst herauszufinden, wer sie ist und wie sie mit der Vergangenheit umgehen soll. Dabei kann sie sich nicht genug wundern über die außerordentliche Gastfreundschaft der Familie einerseits und die ebenso außerordentliche Unwissenheit der Türken andererseits, was die nähere Vergangenheit anlangt. Fazit: Das Buch ist leicht geschrieben, voller Ironie und an vielen Stellen sehr witzig, die Charaktere schön gezeichnet und sehr lebendig. Man kann jede der Frauen verstehen, bemitleidet von Zeit zu Zeit die Männer, denkt sich, Familie ist gut und schön, aber manchmal ein bisschen zu nah. Bei all der Fürsorge und der schweren Vergangenheit der Älteren haben es die Jungen schwer, zu sich und einem einigermaßen eigenen Leben zu kommen. Und all die Familiengeheimnisse, vor allem die schweren, belasten das Miteinander. Aber das alles tut dem Lesevergnügen keinen Abbruch, da die Autorin unsentimental mit ihrem Thema umgeht und nie auf die Tränendrüse drückt. Eine Reihe von Passagen sind einfach so hinreißend treffend und witzig, dass man sie laut lesen müsste. Und man lernt viel über die Türkei der Gegenwart und Vergangenheit sowie über die Geschichte der Armenier. Und darüber, wie viel an gemeinsamer Geschichte und Kultur sie haben, bei allem Leid und aller Ungerechtigkeit die den Armeniern widerfahren ist. Elif Shafak wurde in der Türkei vor Gericht gebracht, weil im Roman eine ihrer Figuren (also eine fiktive Person) vom Völkermord an den Armeniern spricht. Für die Ankläger war das eine Beleidigung des Türkentums. Elif Shafak wurde nach einigem Hin und Her unter Anteilnahme der Weltöffentlichkeit 2006 frei gesprochen. Verlag Kein & Aber - 2015 - Buch |