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Medium Rezension
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Kizilhan, Jan Ilhan
Nachtfahrt der Seele - Von einem, der auszog, das Licht zu suchen
mit Alexandra Cavelius
Zur Person
Prof. Dr. Dr. Jan Ilhan Kizilhan (geboren 1966 in Türkisch-Kurdistan) kam 1973 mit seinen Eltern in die Bundesrepublik Deutschland. Er ist ein international anerkannter Experte der Transkulturellen Psychiatrie und Traumatolagie, Orientalist und Psychologe. Er leitet den Studiengang „Soziale Arbeit – Psychische Gesundheit und Sucht“ an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg. In Donaueschingen verantwortet er fachlich die transkulturelle psychosomatische Rehabilitation an der Klinik MediClin Klinik am Vogelsang. Er kümmert sich seit Jahren um Kriegsopfer bzw. Opfer der Terrormiliz IS, insbesondere um Mädchen und Frauen der Volksgruppe der Jesiden (Schreibweise ist unterschiedlich). Mit Unterstützung der Regierung des Landes Baden Württemberg gelang es ihm und seinen Helfern, mehr als 1000 Jesidinnen aus den Kriegsgebieten zu retten und nach Deutschland zu bringen, wo versucht wird, ihnen bei der Bewältigung ihrer traumatischen Erfahrungen zu helfen, sie psychologisch zu betreuen sowie ihnen einen Start in ein neues Leben zu ermöglichen. Er bekam für sein Engagement u.a. den Womens's Rights Award 2016, 2016 den Verdienstorden des Landes Baden-Württemberg und den Ramer Award for Courage in the Defence of Democracy des American Jewish Committee.
Zudem ist er Autor weiterer Bücher wie „Das Lied der endlosen Trockenheit – Ein Roman aus den kurdischen Bergen“ (Europaverlag 2017) und mit Alexandra Cavelius „Die Psychologie des IS“.

Alexandra Cavelius ist freie Autorin und Journalistin, Autorin politischer Sachbücher wie „Die Zeit der Wölfe“ oder des Buches „Die Himmelsstürmerin und Leila – ein bosnisches Mädchen“ u.a. Mit Jan Ilhan Kizilhan zusammen schrieb sie die Spiegelbestseller über den Islamischen Staat „Ich bleibe eine Tochter des Lichts“ und „Die Psychologie des IS“.
Inhalt
In seinem Buch „Nachtfahrt der Seele – von einem, der auszog, das Licht zu suchen“ beschreibt Jan Ilhan Kizilhan, wie er, ein viel beschäftigter und international anerkannter Psychologe, im Winter 2010 in eine tiefe Sinn- und Lebenskrise gerät. Im Hamsterrad seiner vielen Verpflichtungen und Verantortlichkeiten von ganz unterschiedlichen Seiten mehr und mehr gefangen, fühlt er sich zunehmend leer und beginnt, an sich selbst und seinen Fähigkeiten bzw. am Sinn seines Tuns zu zweifeln. Ist der eingeschlagene Weg richtig, kann er wirklich bei seinen tief traumatisierten Patienten und Patientinnen etwas Postitves bewirken? „Am Tage merkte ich oft nicht, wie sehr ich mich im Gestrüpp dunkler Gedanken verloren hatte. Nachts versank ich in so tiefen Schlaf, dass ich mich morgens an nichts mehr erinnern konnte.“
Kindheit in den Bergen Kurdistans und Leben in Deutschland
Jan Ilhan Kizilhan wurde in eine jesidische Familie hineingeboren, die in den kurdischen Bergen in der Türkei lebte. Von Kindheit an war er mit der Verfolgung und der Missachtung, die dieser Volksgruppe seit Jahrhunderten widerfährt, konfrontiert sowie mit der Armut und dem Mangel an Bildungschancen. Im Alter von ca. sieben Jahren kam er mit seiner Familie nach Deutschland. Er legte eine Art Bilderbuchkarriere mit Studium und glänzenden Noten vor, erarbeitete sich seine gesellschaftliche und berufliche Position in Deutschland mit großer Ausdauer und einem enormen Arbeitspensum. Ein Vorzeigebürger mit Migrationshintergrund.
Leben, Arbeiten, Krisen, Herausforderungen
Das Buch beginnt mit einem Anruf von Journalisten, die Kizilhan im Jahr 2017 bitten, sie mit Zeugen der IS-Verbrechen zusammenzubringen. Trotz seiner vielen Verpflichtungen erklärt er sich bereit, das Fernsehteam zu begleiten. Was sie dort sehen, erschüttert selbst die Journalisten, die schon viel gesehen haben. Kizilhan schildert dann, wie er 2014 begann, sich für die verfolgten Jesiden einzusetzen und ein Rettungsprogramm zu starten, das durch die Hilfe des Landes Baden-Württemberg ermöglicht wurde.
Diese nahezu übermenschliche Aufgabe, der er sich mit seinen Helfern und Helferinnen stellte, wäre vielleicht ohne die vorangegangene durchlittene Lebens- und Sinnkrise nicht zu bewältigen gewesen. Kizilhan beschreibt seine verschiedenen Strategien und Versuche, mit dieser Krise umzugehen, sich in seine Arbeit zu verbeißen und andererseits nach Wegen heraus zu suchen. Er schildert seine Kindheit in Kurdistan, die Eltern, die Familie, die Nachbarn, die Armut, die Unterdrückung und Demütigung durch türkisches Militär und muslimische kurdische Nachbarn. Er beschreibt, wie es ihm und seiner Familie in Deutschland erging, seinen Werdegang und sein Bestreben, in der deutschen Gesellschaft anzukommen, ein geachtetes Leben zu führen. Auch auf die Widersprüche, die ein Leben nach den Glaubenssätzen der Jesiden für die Angehörigen dieser Glaubensgemeinschaft mit sich bringt, geht er ein.
Reise in die Fremde und das eigene Innere
Auf seiner Suche gerät er an einen geheimnisvollen Professor und an eine noch geheimnisvollere Frau, die sein westlich geprägtes wissenschaftliches Welt- und Lebensverständnis völlig auf den Kopf stellen. Immer im Zweifel, ob sich hinter diesen Menschen, wiewohl auch Wissenschaftler, nicht einfach Scharlatane verbergen, lässt er sich doch mehr und mehr auf sie ein, reist sogar in den Iran. Und lernt dort viel über seine eigene Volksgruppe, über deren Vergangenheit und Gegenwart und über alte Religionen und uraltes Heilwissen der Chaldäer, der Anhänger Zarathustras u.a., das im modernen Leben verschüttet worden ist.
Auf dieser „Nachtfahrt der Seele“ kommt er in Berührung mit seinen eigenen Ängsten und Traumata und gelangt zu der Erkenntnis, dass sich diese Traumata aus denen seiner Vorfahren bzw. seiner Volksgruppe speisen. Er erkennt, wie wichtig es ist, seine eigene Geschichte und die seines Volkes zu kennen. Das ist eine Erkenntnis, die sich in der heutigen Forschung mehr und mehr durchsetzt und für menschliche Erfahrungen grundsätzlich gilt, egal, wo auf der Welt.
Zurückgekehrt aus dem Iran gelingt es Kizilhan seine Lebens- und Sinnkrise zu überwinden. Nur vier Jahre später muss er sich der Herausforderung seines Lebens stellen, der Hölle des IS und der Hölle, in der die tief traumatisierten Menschen dort leben. Ohne seine „Nachtfahrt“ wäre dies vielleicht nicht möglich gewesen.
Fazit
Das Buch ist sehr lesenswert, zum einen ist es gut und verständlich geschrieben. Kizilhan und Cavelius nehmen die Leser mit auf diese Reise. Es ist ein Zeugnis für die geistige und seelische Kraft des Menschen und dafür, wie wichtig es ist, sich seinen Ängsten zu stellen, nicht aufzugeben, nicht nachzulassen in seinen Bemühungen und offen zu sein für neue Erfahrungen, auch wenn sie bedeuten, sich auf Altes einzulassen. Mich hat der Titel des Buches sehr angezogen, weil er auf das Märchen der Brüder Grimm anspielt „Von einem der auszog, das Fürchten zu lernen“. Kizilhan kann das Licht erst finden, nachdem er sich seinen Ängsten gestellt hat. Und „Nachtfahrt der Seele“ ist ein Terminus, der sich auf die Erfahrungen von Mystikern und Mystikerinnen verschiedener Religionen, insbesondere des Christentums bezieht. Sehr schön fand ich die Zeilen, die dem Buch vorangestellt sind: „Die Menschenseele ist eine Fee, sie verwandelt Stroh in Diamanten, und unter ihrem Zauberstab sprießen Wunderpaläste wie die Feldblumen unter der belebenden Wärme der Sonne empor.“ (Honoré de Balzac).

Jan Ilhan Kizilhan hat auch ein Buch über die Jesiden, ihre Herkunft, Geschichte und Religion geschrieben. Es richtet sich an Kinder, Erwachsene, Jesiden und einfach interessierte Menschen: „Wer sind die Eziden? / Ezidi ki ne?: Ezidische Kinder und Jugendliche stellen Fragen zu ihrer Religion, Identität und Migration“. Deutsch und Kurdisch, VWB-Verlag 2013. Ich habe dieses Buch sehr gerne und mit großem Gewinn gelesen.
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