Buch-Welt-Musik
Medium Rezension
1038
Ümit, Ahmet
Nacht und Nebel
gebundene Ausgabe 2005, Taschenbuch 2008
Übersetzer: Wolfgang Scharlipp
Biographisches
Ahmet Ümit, geboren 1960 in Gaziantep im Südosten der Türkei. Studium der Verwaltungslehre, 1983 abgeschlossen.
Im gleichen Jahr erste Veröffentlichung einer Erzählung. Einige Jahre war er Mitglied der Türkischen Kommunistischen Partei. Er beteiligte sich in der Zeit der Militärdiktatur an Untergrundaktionen, musste dann untertauchen. Ohne seine linken Überzeugungen aufzugeben, distanzierte er sich dann aber von der Partei, weil er ihre autoritären Züge erkannte. Er arbeitete in einer Werbeagentur, später konzentrierte er sich auf seine schriftstellerische Tätigkeit. In der Türkei ist er sehr bekannt. Seine Kriminalromane sind mehr als spannende Unterhaltung. Sie sind auf hohem sprachlichen Niveau verfasst und gleichzeitig spiegeln sie die politischen und gesellschaftlichen Zustände in der Türkei. Viele seiner Erzählungen wurden verfilmt. Ins Deutsche sind bislang drei Romane übersetzt worden.
Nacht und Nebel erschien schon 1996 in der Türkei, im deutschsprachigen Raum 2005. Es ist das Verdienst des Unionsverlags, dass er vielen nicht-deutsch-sprachigen Autoren eine Möglichkeit der Veröffentlichung bot. Sie stellen eine große Bereicherung für Bücherfreunde dar. Ein bisschen schade finde ich, dass dann später die großen Verlage kommen, offensichtlich bessere Bedingungen anbieten, und dann die Autoren für sich reklamieren. Doch ohne den Unionsverlag hätten sie sich nie und nimmer für sie interessiert. Doch, so ist das Geschäftsleben, auch im Literaturbetrieb.
Nacht und Nebel ist Kriminalroman, aber viel mehr: Ein Buch über die türkische Gesellschaft, über Gewalt, Machenschaften des Geheimdienstes, staatlichen Terror und die bürgerliche Gesellschaft, die Andersdenkende ausgrenzt, zu Außenseitern macht. Es ist auch ein Roman über Lebensentwürfe, die sich als brüchig herausstellen, und über Lebenslügen, die aus diesen Brüchen entstehen, die man versucht zu überbrücken und an denen man scheitert. Kompositorisch ist das Buch anspruchsvoll wie auch die Sprache, die aber gleichzeitig klar und verständlich bleibt. Es gibt viele alptraumhafte Sequenzen, surreale Situationen. Doch wird deutlich: Sie haben mit der Persönlichkeit des Protagonisten Sedat zu tun und weisen ihn und die Leser (die das wahrscheinlich eher bemerken als er) auf seine verdrängten Ängste, Emotionen und Probleme hin. Das Gefühl von schuldhaftem Handeln beschleicht einen, auch wenn zunächst nichts auf eine persönliche Schuld Sedats hindeutet.
Die Handlung
Sedat ist Geheimdienstmitarbeiter. Er entkam knapp einem Attentat, liegt im Krankenhaus und versucht sich zu erinnern, was geschehen ist. Er ist verheiratet, hat aber eine Geliebte, Mine. Sie ist verschwunden. Sedat ist von dem Gedanken besessen, sie zu finden. Obwohl noch nicht genesen, macht er sich auf die Suche nach ihr. Und man kann sagen, er macht sich damit auch auf die Suche nach sich selbst. Denn mit seinen Recherchen begibt er sich auf eine Reise, von der nicht klar ist, wo sie endet. Er entfremdet sich zunehmend von seiner Familie, seinen Vorgesetzten und Kollegen. Er gerät an gesellschaftliche Außenseiter, Kriminelle und in Milieus, die ihm bislang fremd waren. Sein Leben gerät in Unordnung, innerlich wird er zunehmend unsicher. Wem kann er glauben, vertrauen? Nicht einmal sich selbst? Er erfährt sich selbst als fremd und unheimlich. Wer ist er eigentlich? Was ist mit seinen Idealen, Überzeugungen? Wohin haben sie ihn geführt? Was ist aus ihm geworden? Und was ist mit seiner Schuld?
Die Lösung am Ende ist wirklich überraschend. Und man sollte nicht nachschauen. Das Ende ist eigentlich folgerichtig.
Überaus lesenswert, inhaltlich wie sprachlich anspruchsvoll. Das ist Literatur im Gewand eines Kriminalromans. Die Leser lernen sehr viel über die Türkei bzw. die türkische Gesellschaft.
Unionsverlag - 2008 - Buch
- Impressum - @Copyright Gabriele Strahl, Neuss - Datenschutzerklaerung -