Buch-Welt-Musik
Medium Rezension
1034
Livaneli, Zülfü
Glückseligkeit
gebundene Ausgabe - Roman
aus dem Türkischen von Wolfgang Riemann
Inhalt
Das Buch beginnt mit dem Satz: „Meryem schlief den Schlaf einer Siebzehnjährigen.“ Das Mädchen findet sich eingesperrt in einem Raum, allein und verlassen. Sie weiß nicht, warum ihr das geschehen ist, sie weiß nicht, was weiter geschehen wird. Sie spürt, etwas ist verändert in ihr, aber was das ist, weiß sie nicht genau. Nur in ihren Alpträumen offenbart sich ihr, was ihr widerfahren ist. Ansonsten ist alles verdrängt.
Die Familie hat beschlossen, dass nicht der Iman, der sie vergewaltigt hat, der Schuldige ist, sondern Meryem. Niemand erhebt sich gegen einen heiligen Mann. Alle wissen Bescheid, aber niemand hilft ihr. Im Gegenteil: Die Familie erwartet, dass sie sich selbst tötet, um die Ehre wiederherzustellen.
Das ist die eine Ebene, auf der der Roman spielt. Dann gibt es Meryems Cousin Cemal. Er ist Soldat und kehrt gerade aus einem Krieg gegen die PKK zurück. Selbst zutiefst verunsichert über seine Erfahrungen und traumatisiert, soll er seine Cousine aus dem Dorf schaffen und dafür sorgen, dass sie nicht mehr zurückkommt.
Und da ist noch der Istanbuler Professer Irfan. Er lebt ein Leben gegen sich selbst, seine Ehe ist missglückt, beruflich sieht er sich gescheitert. Er hat sich von seiner Frau getrennt und reist nun auf einem Schiff ziellos an der türkischen Küste entlang.
Drei Lebenswirklichkeiten prallen aufeinander
Diese drei Protagonisten mit ihren schwierigen Lebenssituationen treffen aufeinander. Wie sie damit umgehen, was aus Meryem, Cemal und Irfan wird, das erzählt Zülfü Livaneli spannend und einfühlsam, mit merklicher Sympathie für Meryem, aber auch mit Cemal. Gerade er soll ja in eine Rolle gedrängt werden, die er nicht will. Er selbst leidet unter den Dingen, die er erleben musste und bräuchte Hilfe. Aber die kann er nicht erwarten.
Es wird immer vergessen, dass auch die jungen Männer, die – weil sie strafunmündig sind bzw. mit geringeren Strafen rechnen können – benutzt werden, um die so genannten Ehrenmorde zu begehen. Sie werden ebenso missbraucht wie die Frauen, denen einen Vergewaltigung widerfährt. Im Roman prallen ganz unterschiedliche Lebensweisen aufeinander, die moderne und die archaische Türkei.
Ich mag sehr, dass Livaneli keine vorschnellen Urteile fällt, jeden seiner Charaktere zu Wort kommen lässt mit seiner Geschichte. Seine Lösung für die Probleme gefällt mir außerordentlich gut. Aber die sollte jede/jeder selbst herausfinden.
Fazit
Überaus lesenswert. Man bekommt ein differenziertes Bild über die Türkei zwischen Archaischem und Modernem. Wichtig vielleicht: Das Buch ist in der Türkei 2002 erschienen und zeitlich also noch vor Erdogans Wahlsieg angesiedelt.
Verlag Klett Cotta, Stuttgart - 2002 - Buch
- Impressum - @Copyright Gabriele Strahl, Neuss - Datenschutzerklaerung -